Dienstag, 4. Dezember 2007
Djingolesische Bibliothek
Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade
Ich sass immer noch am Fenster meines Zimmers im dritten Stockwerk, sah hinaus in den dunklen Park, mein Blick immerzu auf den Nymphenbrunnen gerichtet. Ich wartete schon seit Stunden, wobei ich keine Langeweile verspürte. Die Hoffnung, noch einmal ihren nackten Körper im Wasser baden zu sehen, wie der Gedanke, dass sie ihren Blick hinauf zu meinem Fenster wenden könnte und mich sowie meine Liebe zu ihr erkennen würde, liess die Zeit im Flug vergehen. Ich war mir so sicher, dass es heute Nacht geschehen würde.
Sie stand da, umringt von kleinen Satyrn, ihren Wächtern, und hielt ihr Füllhorn über sich, so dass das Wasser über ihre anmutige Brust strömte, ihren Körper umarmte, um sich schliesslich im Brunnenbecken wieder zu finden.

Einmal wagte ich es, bei einem Spaziergang im Park, das Wasser, gefüllt von ihrem Duft, ihrer Essenz, zu berühren, aber die Satyrn, halb Mensch, halb Bock, bewachten ihre Herrin. Ich stand schon am Brunnenrand, reckte meine Hand in das Wasser, und als ich es berührte, spürte ich ihre Körperwärme, ihren Atem, als wäre sie dicht bei mir. Doch im selben Augenblick trafen mich die strafenden Blicke der kleinen Teufel und mir war, als würde sich jede Pore meiner Haut mit Stein überziehen. So musste ich dort verharren, versteinert in einer sehr unbequemen Position, gebückt über den Brunnenrand, einen Arm zum Wasser hin ausgestreckt, mit der Angst, jeden Moment das Gleichgewicht zu verlieren, Kopf voran in den Brunnen zu stürzen und im Wasser zu ersaufen, ohne die Möglichkeit mich aus meiner Versteinerung zu befreien.

Als die Sonne jedoch aufging und das Licht den Park durchflutete, fanden mich die Pfleger in eben dieser misslichen Position. Sie trugen mich auf mein Zimmer, wo ich mich dann langsam, es dauerte einige Wochen, bis ich wieder alle meine Glieder bewegen konnte, erholte. Was aber wirklich unangenehm war, war der Umstand, dass mir mein Arzt, Herr Cavicelli, wie üblich kein Wort glaubte. Er war der totale Versager, völlig unfähig die Wahrheit in den Dingen zu erkennen. Ich hatte ihn schon als unsensiblen Trampel erkannt, bevor er nur seinen Mund öffnete. Es war seine Gestik, die ihn verriet, die Art, wie er seine Hände faltete über seinem dicken Bauch, auch wie er seine Unsicherheit überspielte, indem er seinen goldenen Siegelring immer wieder an seinem weissen Kittel polierte. Obwohl ich mein Geheimnis, die Liebe zu der Nymphe im Park, unter keinen Umständen preisgeben wollte, konnte ich der Versuchung, ihm zu zeigen, was wahre Liebe ist, nicht wiederstehen. Ich berichtete ihm von jener ersten Nacht, als ich sie von ihrem Sockel heruntersteigen sah. Sie liess ihre feingliedrigen Beine in den Brunnen gleiten, es schien als würde sie ab der Kälte des Wassers erschauern, doch das Mondlicht spendete ihr Wärme; sie genoss ihr Bad. Ihre Grazie, ihre Anmut, ihr Wesen an sich liess nicht nur mein Blut in den Adern stocken, auch die Satyrn tanzten um sie in einem leidenschaftlichen Rhythmus, umwarben sie. Wie ich sie da beobachtete, in ihrer natürlichen Nacktheit, zart und fein, wie der erste Schnee in einer Novembernacht, wurde mir ganz warm ums Herz. Herr Cavicelli unterbrach mich in meiner Rede, erklärte, dass dies alles nur Kraft meines Unterbewusstseins wäre, dass diese Kreaturen aus hohlem Metall bestünden und bloss zur Zierde im Brunnen stehen, und bemerkte, dass die Sitzung, welche immer nur fünfundfünfzig Minuten dauerte, zu Ende sei. Zudem liess er meine Medikamentation verstärken. Welche Ignoranz!

Ich erzählte ihm nie mehr von meiner Liebe zu der Nymphe bis eben zu diesem Vorfall, als ich versteinert im Park gefunden wurde. Nachdem ich versucht hatte, ihm vor Augen zu führen, wie wachsam die kleinen Teufel seien, dass sie keine Nebenbuhler duldeten und nur dies zu meiner Versteinerung geführt hatte, verordnete er mir, bis auf weiteres, Hausarrest. Mir blieb nichts weiter übrig, als Nacht für Nacht am Fenster zu sitzen und sie zu betrachten.

Als schon mehr als dreihundert Nächte, in denen sie nicht mehr zum Leben erwachte, auf diese Weise verstrichen waren, überkam mich Hoffnungslosigkeit, gleichzeitig eine Angst, dass ich sie bei meinem Versuch, ihr Brunnenwasser zu trinken, dermassen erzürnt hatte, dass sie sich mir nimmer mehr zeigen würde.

Am Tage darauf, im Speisesaal beim Essen konnte ich das Leid über meine Erkenntnis nicht weiter verbergen. Tränen rannen mir über mein Gesicht, tropften in meinen Teller. Ich sass da, weinte und schluchzte, aber es schien, dass niemand mein Unglück bemerken würde. Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und eine Stimme sagte zu mir:
„Weine nicht, mein Bruder.“
Ich drehte mich um, war überrascht, denn es war Heinrich Moser, ein durch und durch wahnsinniger Mathematiker, der seine Frau und seine Kinder in einem Anfall der mathematischen Logik umgebracht hatte, der zu mir sprach. Er war, wie ich, schon seit langem hier Patient, doch ich hatte nie zuvor mein Wort an ihn gerichtet, aus Angst, ihn in seiner Rechnerei, die er ständig vor sich hinmurmelte, zu stören. Einmal war ich Zeuge gewesen, als er einem Pfleger, der es gewagt hatte, ihn zu unterbrechen, überrumpelte und ihm den Kopf solange gegen die Wand schlug, bis dieser bewusstlos am Boden liegen blieb. Doch nun liessen mich seine Worte tiefes Mitgefühl spüren. Ich nahm seine Hand, drückte sie und gab ihm einen brüderlichen Kuss auf die Wange.
Heinrich Moser erwies sich als überaus guter Zuhörer, auch seine Anteilnahme ging soweit, dass er am Ende meiner Geschichte weinen musste. Nachdem er sich gefasst hatte, erklärte er mir die Logik im Universum, dazu muss ich ehrlich sagen, dass ich nur knapp die Hälfte seiner Überlegungen verstand. Es gebe für jede nur erdenkliche, auch nicht mathematische Problemstellung eine Lösungsmenge. Ich solle ihm einen Tag Bedenkfrist einräumen und dann werde er mir helfen können.

Am Tag darauf, als ich in den Gang zum Speisesaal einbog, hörte ich Lärm und Tumult aus dem Saal. Ich rannte, erahnte Schreckliches und sah, wie vier Pfleger auf Heinrich stürzten, doch er wehrte sich mit aller Kraft. Die anderen Patienten warfen mit Kartoffelstock und Spinat nach den Pflegern, kreischten und lachten, so, dass mir die Szene völlig absurd erschien. Nach einer wilden Schlägerei überwältigten die vier Männer ihn, dann trugen sie den zur Bewusstlosigkeit Geschlagenen in sein Zimmer. Mit hängendem Kopf, da ich nun weder Hilfe noch Rat erhalten würde, wandte ich mich zur Tür, und da erblickte ich den Anlass für die Auseinandersetzung. Heinrich, mein einziger Freund, hatte mit roter Farbe meine Erlösung an die Wand gemalt. Wie ein Menetekel aus Feuerschrift leuchtete seine Zeichnung: zwei grosse Punkte, durch eine Gerade verbunden.

Ich ging auf mein Zimmer, glücklich über sein Zeichen und seine Hilfe, und setzte mich ans Fenster. Ich wartete mehrere Stunden, bis der Mond sich zeigte, sowie alle Lichter in der Klinik erloschen waren. Ich öffnete dann das Fenster. Da sah ich sie in aller Pracht vor mir stehen, ihre Schatten vom Mondlicht weich gezeichnet. Ich stieg auf meinen Stuhl, dann auf das Fensterbrett, Heinrichs Zeichnung im Geiste noch einmal betrachtend. Zwei Punkte, zwei Herzen, die kürzeste Verbindung die Gerade. Erfüllt von Liebe sprang ich ihr entgegen, und noch während dem ich fiel, streckte sie mir ihre Arme zu und schenkte mir ihr schönstes Lächeln.

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